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Die Schweiz in der Igelstellung?

fanimal

Die Schweiz in der Igelstellung?

Viele rieben sich verwundert die Augen, als die Schweiz am 9. Februar 2014 „Ja“ zur Zuwanderungs-Initiative gestimmt hat. Die Reaktionen aus dem Ausland waren im Anschluss ziemlich barsch und so einige fragten sich, warum die Schweiz die Initiative angenommen hatte.

Bei der intensiven Suche nach dem geeigneten Titel für diesen Artikel kam das Bild der Igelstellung auf. Wenn ein Igel in Gefahr gerät, so stellt er all seine Stacheln auf und so wurden denn auch eine miltärische Abwehrstellung, eine politische Strategie sowie eine Stellung im Schachspiel danach benannt. Interessanterweise hat die Igelstellung sogar einen Bezug zu den alten Eidgenossen, die im 14 und 15.Jahrhundert diese Igel-Strategie gegen die Kavallerie einsetzen.

Wer eine Igelstellung einnimmt, befindet sich meist in einer defensiven Haltung und hat oft Angst vor einem übermächtigen Gegner. Das raffinierte Gegenmittel, dass allerdings geschichtlich nicht wirklich von Erfolg gekrönt war, war eben die Igelstellung.

Vor was könnte denn die Schweiz eine solche Angst haben, dass die Igelstellung per Abstimmung eingenommen wird? Hat die Schweiz Angst vor einer Überfremdung? Viele Diskussionen, speziell im Ausland nähren diese These. Diese Frage möchten wir hier etwas ergründen.

Dieser Artikel möchte ausserdem versuchen aufzeigen, wie viele verschiedene Gründe zu diesem komplexen Abstimmungsresultat beitrugen und den schweizerischen Gefühlen, die zu diesem Entscheid geführt haben, etwas tiefer auf den Grund zu gehen. Damit auch im Ausland ein Verständnis entsteht, wieso etwas mehr als knapp die Hälfte der Schweizer und Schweizerinnen „Ja“ zu dieser Zuwanderungsinitiative gestimmt haben. Da der Artikel im Verlauf der Überarbeitungen ziemlich lang wurde, finden Sie hier ein Inhaltsverzeichnis:

 

The Spirit of Switzerland

Der Autor dieses Artikels, Mit-Gründer von spirit.ch, ist froh darüber, als Schweizer geboren worden zu sein. Für ihn gibt es einen sehr weltoffenen „Spirit of Switzerland“, einen „Geist der Schweiz“ über dessen weltweit bis anhin guten Ruf er sich doch sehr erfreut hat und für den er sich auch sehr aktiv engagiert.

Doch dieser Ruf nimmt zunehmend Schaden, denn die Schweiz wird immer mehr als Land dargestellt, das als Hafen für Schwarzgelder und Diktatoren-Vermögen dient, Steuer-Hinterziehungen ermöglicht, die Religionsfreiheit via das Verbot von Minaretten einschränkt, als Rosinen-Picker gilt, sich zunehmend rechts ausrichtet und sich abschottet. Auch das Image einiger in der Schweiz ansässigen Weltunternehmen und vor allem der Schweizer Banken trägt sicherlich nicht zur Verbesserung dieser Wahrnehmung bei.

Negative Artikel über die Schweiz häufen sich weltweit in den letzten Jahren, vor allem seit die Schweizerische Volkspartei unter Christoph Blocher von einem Erfolg zum anderen eilte und dabei bei den Abstimmungen oft sehr umstrittene, eindimensionale und unsensible Plakatsujets einsetzte, die das Ausland (und auch viele Schweizer) nicht verstanden. Aber auch all die Diskussionen um unser Bankgeheimnis und die tiefen Steuern, mit denen aus der Sicht aus dem Ausland Unternehmen und reiche Personen abgeworben werden, brachten die Schweiz zunehmend in Misskredit.

Daher nun in diesem Artikel erst einmal der Versuch, den Spirit of Switzerland zu erklären, wie ihn der Autor versteht.

Sitz von unzähligen humanitären Initiativen

Oft geht unter, dass die Schweiz ein sorgfältig gewählter Sitz der UNO ist „der grösste UN-Standort mit dem meisten Personal “ 1 , das die Genfer Konvention eine „essentielle Komponente des humanitären Völkerrechts“ 2 bildet, dass das rote Kreuz in der Schweiz gegründet wurde, das IKRK seinen Hauptsitz in der Schweiz hat und die UN-Konferenz für Abrüstung UNCD in der Schweiz stattfand.

Dadurch ist die Schweiz auch Hauptsitz für zahlreiche Organisationen wie der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung UNCTAD, dem UN-Menschenrechtsrat, der internationalen Arbeitsorganisation IAO, der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie dem hohen Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte  und dem hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCHR.

Auch wenn ein Teil dieser aufgelisteten Organisationen sicherlich nicht nur über einen makellosen Ruf verfügen, so zeugt doch auch die Ausrichtung der Organisationen etwas von der humanitären Ausrichtung unseres Landes. Die beiden Weltkriege, die Neutralität, die politische Stabilität und die Rechtssicherheit seit der Bundesverfassung von 1848 bildeten die Grundlage für die Platzierung dieser internationalen Organisationen.

Und auch wenn die Neutralität unseres Landes sicherlich etwas instrumentalisiert wurde und in der Geschichte vor allem auch wirtschaftliche Vorteile brachte, so zeugt doch beispielsweise der Umstand, dass die amerikanische Vertretung im Irak über die Schweizer Botschaft läuft und das nach wie vor viele Friedensverhandlungen in Genf stattfinden, davon, dass die Schweiz noch immer als neutral wahrgenommen wird.

Eine multikulturelle Tradition

Auf diese humanitäre Tradition waren wir früher als Schweizer auch immer stolz. Wir definierten uns als multikulturelles Land mit der Vielfalt von 4 Sprachen im Herzen von Europa und begriffen uns als ein kleines gelungenes Modell für interkulturelles und friedliches Zusammenleben, trotz all der wiederkehrenden kleinen Spannungen zwischen den Landesteilen. Diese Spannungen, respektive den Umgang damit, verstanden wir sogar im Gegenteil als Zeichen dafür, dass unsere Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen Kulturkreisen auch Europa helfen kann.

Wir Schweizer wachsen schon damit auf, dass wir Ferien in anderssprachigen Landesteilen machen, und dass diese ein leicht anderes Kulturverständnis haben wie wir. Immer wieder gab auch der sogenannte „Röschti-Graben“ zu reden (das ist die Grenze zwischen der Deutsch- und der Westschweiz), der oft in Abstimmungen eine Grenze inmitten der Schweiz bildete, so auch in der aktuellen Abstimmung wo die Deutschschweizer und Tessiner „Ja“ stimmten, währendem die Westschweizer „Nein“ stimmten.

Die meisten SchweizerInnen sprechen auch zumindest zwei oder mehrere Sprachen und viele sind dank dem materiellen Wohlstand in der Schweiz auch schon viel in der Welt unterwegs gewesen. Und da verhalten sich die Schweizer gemäss Ihrer multikulturellen Tradition auch meist sehr vorsichtig gegenüber der Kultur eines anderen Landes und geniessen auch heute noch meist einen guten Ruf.

Wir öffneten unser Land aber auch für europäische Transportwege und investierten Milliarden für die europäische Mobilität. Wir bauten gigantische Wasserspeicher, die als Energiespeicher für das europäische Strom-Netz dienen. Und wir versuchten immer wieder mit Europa zu verhandeln, gemeinsame Wege auszuloten und unser föderalistisches System zu erklären. Ein Resultat daraus waren eben dann auch die bilateralen Verträge mit der EU, eine Sonderregelung für die Schweiz.

Ein einzigartiges politisches System

Wir sind aber auch sehr zufrieden mit unserem Regierungs-System, bei dem die vier grössten Parteien ständig in der Regierung vertreten sind, die dadurch miteinander diplomatisch umgehen müssen und dann dafür aber auch eine langfristige Politik garantieren. Kein destruktives, öffentlich inszeniertes Hick-Hack zwischen verfeindeten politischen Parteien, die schon ihr Wahlprogramm für das nächste Jahr nicht einhalten. Ein Stabilitäts-Garant gleichzeitig für ausländische Investitionen, die es schätzen, wenn Gesetze nicht alle vier Jahre von der jeweils neuen Regierung umgeschrieben werden.

Und stolz waren wir vor allem auch darauf, dass unsere direkte Demokratie in der Welt einzigartig ist und die Menschen in keinem anderen Land die Politik so mitbestimmen können. Denn gegen jedes beschlossene Gesetz können die SchweizerInnen ein Referendum einlegen und jegliche Art von neuen Verfassungsartikeln können mittels Initiativen initiiert werden, so dass das Volk im Prinzip über alles abstimmen kann.

Und genau diese Eigenart, dass wir in unserem Land tatsächlich selbst sogar entgegen Empfehlungen der Regierung und der Wirtschaft stimmen können, ist nun Anlass für eine der grössten Überraschungen in der europäischen Politik. Ein kleines Zwergland lehnt sich scheinbar auf gegen einen übermächtiges Europa, das teils erst jetzt etwas augenreibend zur Kenntnis nimmt, dass die Schweizer Bürger und Bürgerinnen so direkt selber über Ihre Politik bestimmen können.

Eine meist eindimensionale Reaktion auf den Volksentscheid

Dieser Entscheid löste im Ausland bei vielen zumindest Kopfschütteln, wenn nicht eine ärgerliche Reaktion aus. Bei anderen weckte das aber auch einen Neid auf die Schweiz, beziehungsweise einen immer stärker werdenden Mitbestimmungswunsch, der den europäischen Zentralorganisationen nicht gefallen kann, ja nicht gefallen darf. Manch einer in EU-Verwaltung mag gedacht haben: “Wo kämen wir dann hin, wenn das Volk alles selber bestimmen könnte?“.

So reagierten auch viele der europäischen Medien im Anschluss an den 9. Februar 2014 sehr negativ auf unseren Volks-Entscheid. Artikel wie „Land des Geldes, Land der Angst“, „Schweizer stimmen für die Abschottung“, „Analyse: Tell gegen den Rest der Welt“, „Schweiz sagt: Uusländer raus!“ oder „Die spinnen, die Schweizer“ zeigen ein Bild der Reaktionen. In der Schweiz wurde gar die Frage gestellt „Sind wir ein Volk von Rassisten?„.

Ein Artikel wie „Europas mutigste Demokraten“ im Spiegel war dabei eher eine Seltenheit. Die meisten positiven Reaktionen zum Abstimmungsentscheid kamen denn auch aus den rechtsgerichteten Kreisen Europa‘s.

Erste Reaktionen erfolgten bereits und so wurden schon einige Verträge wie Erasmus, Horizon und andere auf das Eis gelegt. Die EU schlägt einen rauen Ton gegenüber der Schweiz ein, droht der Schweiz mit Konsequenzen und stoppt die Verhandlungen über wichtige Verträge. Und oft hört man, dass die Schweizer eben einfach ausländerfeindlich seien und sich nur die Rosinen picken.

Ausländer in der Schweiz

Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die Schweiz einen Ausländeranteil von 22.4% hat. Dazu habe ich einige Recherchen unternommen und zumindest für mich erstaunliche Resultate gefunden.

Abgesehen von den Zwergstaaten Liechtenstein und Luxemburg ist diese Ausländerquote die mit Abstand höchste Quote in Europa – soweit ist das zumindest mal bekannt. Ganz Europa hat im Durchschnitt 6.6%, also mehr als dreimal weniger Ausländeranteil und Deutschland 8.8% (Quelle: Eurostat, 2011). Einen sehenswerten Eindruck davon gibt diese Grafik von Migration in Germany. Es gibt viele Gebiete in der Schweiz, die mehr als ein Drittel Ausländeranteil haben  (Quelle: Bundesamt für Statistik, 2012) und einige Gemeinden und Städten, bei denen die Schweizer sogar in der Unterzahl sind (Beispiel Leysin, Ausländeranteil 61.2%).

Und jährlich erwerben rund 40‘000 Personen die schweizerische Staatsangehörigkeit. Im rund 10mal grösseren Deutschland waren dies in den letzten Jahren gerade mal um die hunderttausend und auch im Vergleich zu Gesamteuropa sind das drei Mal mehr Einbürgerungen als im Durchschnitt (Quelle: Eurostat, 2010).  Rechnet man diese Einbürgerungen nur schon seit 2000 dazu, so steigt die Quote auf 28.6%  (Ausländeranteil + eingebürgerte Personen seit 2000). In Deutschland wären wir mit der gleichen Rechnung bei 10.1%…

So haben wir in der Schweiz auch einen Anteil von 34.7 % mit Migrationshintergrund (Quelle: Bundesamt für Statistik, 2012). Zum Vergleich beträgt diese Quote in Deutschland 20.0 % (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2012)

Sicherlich ist der Ausländeranteil alleine aber nicht ein Kriterium für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit, denn dabei ist auch zu betrachten, aus welchen Schichten die eingewanderten Ausländer kommen. Viele der Ausländer in der Schweiz sind sehr gebildet und so ist beispielsweise der Anteil an deutschen Ärzten in der Schweiz sehr hoch. Menschen also, die im Ausland ausgebildet wurden und nun Ihr Wissen in die Schweiz einsetzen. Dies alleine dient also nicht als Erklärungsgrund.

Zudem spielt auch der Grad Integration eine Rolle. Viele Italiener werden eigentlich schon fast nicht mehr als Ausländer betrachtet, denn man liebt es zum Italiener um die Ecke Pizza essen zu gehen. Und auch die Clubs der Spanier mit ihren Paellas und Calameres sind beliebte Treffpunkte auch für SchweizerInnen.

Betrachtet man die Statistiken weiter, so fällt auf, dass im Jahre 2011 beispielsweise 23‘000 Personen Asyl beantragt haben, das sind viel mehr als beispielsweise Spanien (3‘000) und nicht viel weniger als in Italien (34‘000), wo man ja aufgrund der Medienberichterstattung einige mehr erwarten würde. Und Deutschland hat mit 53‘000 asylbeantragenden Personen hochgerechnet mehr als viermal weniger Asylanträge (Quelle: Eurostat, 2011).

Dies führt dazu, dass in der Schweiz oft in ländlichen Gegenden grosse Asylheime gebaut werden. Und diese weckten in einigen Fällen bei der lokalen Bevölkerung viele Ängste. Aber auch dieser Erklärungsversuch alleine bringt uns bei der Suche nach den Gründen für das Ja nicht viel weiter, denn davon sind nur einige betroffen. Und das Ja stammte hauptsächlich aus Gegenden mit einem verhältnismässig tiefen Ausländeranteil.

Zuwanderung in der Konsequenz

In der Schweiz wanderten netto (Zuwanderungen minus Abwanderungen) in den letzten 10 Jahren zwischen 36‘000 und 98‘000 Menschen jährlich zu, im Schnitt 56‘000 (Quelle: Bundesamt für Statistik, 2012), in Deutschland waren das zwischen 368‘000 und minus 55‘000, im Schnitt nur gerade 107‘000, also nicht mal doppelt so viele in einem zehnmal grösseren Land (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2012).

Man muss sich das mal bildlich vorstellen. Im Schnitt entsteht jedes Jahr in der Schweiz eine Stadt von 56‘000 Einwohnern. Im bevölkerungsmässig mehr als 10mal und flächenmässig mehr als 8mal so grossen Deutschland sind es nicht mal doppelte so viele Einwohner in dieser neuen Stadt. Hochgerechnet würde so in Deutschland jedes Jahr aus dem Nichts eine neue Stadt der Grösse von Nürnberg entstehen. Und bedenkt man noch dazu, dass in der Schweiz durch alle Berge und Seen eine immens grosse Fläche nicht mal besiedelt werden kann, so zeigt dieser Vergleich, warum sich viele Schweizer langsam unwohl fühlen.

Denn all diese neuen Einwohner brauchen neben Wohnraum auch Infrastruktur, die immer mehr überlastet wird, denn so schnell wie die Zuwanderung erfolgte, kann die Infrastruktur gar nicht ausgebaut werden. Und so haben wir, obwohl wir das dichteste öffentliche Verkehrsnetz der Welt haben, in der Schweiz immer mehr überfüllte Bahnwagen, in denen die Leute über weite Strecken nur noch stehen können und auf unseren Autobahnen wird Stau und stockender Verkehr bald zum Regelfall. So muss in den Stosszeiten im Zürich Nordring jeden Tag mindestens eine Stunde Stau eingerechnet werden.

Dörfer wachsen zunehmend mit den Städten zusammen und werden zu anonymen und gesichtslosen Agglomerationen. Die Naherholungsplätze werden immer mehr überbaut und an vielen Orten fühlen sich die Einheimischen nicht mehr daheim, da Parallel-Infrastrukturen entstehen, wie beispielsweise grosse Läden auf dem Land, in denen man nicht mal mehr einen einzigen Schweizer sieht und sich kaum einer hineinwagt.

Vor allem auch ältere Leute getrauen sich in einigen Regionen schon gar nicht mehr auf die Strasse, weil sie Angst haben. So beispielweise eine ältere Bekannte des Autor’s, die immer sehr weltoffen war, mehrere Jahre im Ausland gelebt hat und sich nun am Abend nicht mal mehr aus dem Haus traut. Sie ist kein Einzelfall.

Einschränkung der Lebensqualität mit falschen Versprechungen

Das alles schränkt die Lebensqualität nun halt doch sehr empfindlich ein, was zu einer zunehmenden Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Schweiz führte. Noch bei der Abstimmung im Jahr 2000 über die bilateralen Verträge I stützte sich der Bundesrat auf eine Studie, die davon ausging, dass sich „netto maximal 10 000 EU-Bürger zusätzlich in der Schweiz niederlassen werden“ 3 .

Die aktuellen Zahlen sprechen eine andere Sprache und so wurde mitunter auch das Vertrauen in den Bundesrat, in die Politik ganz allgemein erschüttert. Kombiniert mit all dem enormen Druck aus dem Ausland bezüglich dem Bankgeheimnis, dem der Bundesrat aus Sicht von vielen einfach viel zu viel nur nachgab, anstatt sich zu wehren, sank das Vertrauen in unseren Bundesrat noch viel mehr und immer mehr wurde dieser als „schwach“ bezeichnet.

Schlussendlich wurde dann noch kurz vor der Abstimmung ein Buch von der sicherlich guten, aber hier wohl mit zu viel Scheuklappen ausgestatten, früheren Aussenministerin Calmy-Rey veröffentlicht 4, dass entgegen aller Volksstimmung einen EU-Beitritt proklamierte und für viele dann den Reflex auslöste, nun doch ein „Ja“ in die Urne zu legen, so als eine Art Denkzettel für die linken Parteien, die bis heute anscheinend noch nicht verstanden haben, dass der EU-Beitritt in der Schweiz absolut kein Thema ist. Insofern kann man der SP indirekt einen grossen Erfolg in der Förderung der Annahme der Zuwanderungsinitiative attestieren.

Ja-Stimmen aus den verschiedensten Gründen

Das Volk fühlte sich, wie oben beschrieben, aus verschiedenen Gründen nicht mehr kompetent vertreten von seiner Regierung. In der schweizerischen Eigenart verpasste es der Regierung via Annahme der Initiative auch einen Denkzettel. Das Volk hatte auch genug von der ständigen Argumentation der Wirtschaftsverbände, dass bei einer Annahme viele Stellen verloren gehen werden. Damit wurde schon zu oft gedroht.

Einige andere, speziell Menschen über 50, hatten aber auch zunehmend Angst, keine Arbeitsstelle mehr zu finden oder mit drastischen Einkommenseinbussen zu rechnen. Davon kann ich ein Lied singen, denn ich habe über 7 Jahre als Coach für stellensuchende Führungskräfte gearbeitet und festgestellt, dass deren ganzes Know-how auf dem Markt durch die internationale Konkurrenz auf dieser Etage schlichtweg nicht mehr gefragt war.

Ein weiteres Argument findet sich im Wohnungsmarkt. So ist es in einigen Städten bereits nahezu unmöglich, eine Wohnung zu finden, wenn man keine Beziehungen hat. In ganz Zürich beispielweise standen am 1. Juni 2013 nur gerade 242 Wohnungen frei, was einem Leerwohnungsstand von 0.11% bedeutete (Quelle: Stadt Zürich). Wie sich ein solcher Stand natürlich auf die Mietpreise auswirkt, rechnet sich von selbst. Und die Schweiz ist ja bekanntlich ein Volk von Mietern, da nur 36% Wohneigentum besitzen (damit stehen wir auf der europäischen Rangliste am Schluss). Dass da natürlich eine weitere unbegrenzte Zuwanderung kein Entspannungsfaktor ist, versteht sich von selbst.

Ein wichtiger weiterer Grund für Ja-Stimmen kam aus dem Lager der EU-Skeptiker und Gegner. Viele Ja-Stimmenden wollten auch ein klares Zeichen gegen einen EU-Beitritt setzen. Den einen ist die Administration ein Dorn im Auge: Beispielsweise das die Banane einen gewissen Krümmungsradius aufweisen muss oder dass der EU-Verwaltungsapparat so riesig ist und so viele Steuern verschlingt.

Die meisten stört an der EU aber der Verlust der Selbstbestimmung in zentralisierten Entscheidungen ohne Berücksichtigung der Regionen. Den Schweizern ist traditionell vor allem Ihr Mitbestimmungsrecht in politischen Fragen wichtig. So sind wir aufgewachsen mit der Diskussion von politischen Initiativen, Referenden und anderen Postulaten am Familientisch. Wir stimmen teilweise sogar so, dass sich das Ausland die Augen reibt, wie etwa, als die StimmbürgerInnen gegen mehr Ferien stimmten, um die Wirtschaft konkurrenzfähiger zu halten.

Dann gibt es viele, denen die versuchte Bevormundung aus dem Ausland ein Dorn im Auge ist. Sei es bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses, beim Drängen auf automatisierten Datenaustausch oder in der Drohung mit der Kavallerie, die bei den Schweizern gar nicht gut ankam. Auch die im Raum stehende Drohung, dass bei einem Ja gleich alle bilateralen Verträge gekündigt werden könnten, sorgte nicht unbedingt für Sympathie.

Und dann gab es auch klare Ja-Stimmen von Secondos und Eingebürgerten, die unter vorgehaltener Hand oft nicht wollten, dass mehr Ihrer Landsleute in die Schweiz kommen und so allenfalls den Ruf ihres Volkes schädigen könnten.

Und letztendlich gab es doch auch viele Stimmen für die Initiative aus dem grünen Lager, die komplett andere Gründe haben, wieso sie die Zuwanderung beschränken möchten. Stichworte dazu sind ungebremstes Wirtschaftswachstum, Zersiedelung, Verdichtung, Naturschutz und Verkehrseindämmung. Viele haben Angst, dass die rasche Zuwanderung in der Konsequenz keine nachhaltige Entwicklung des Landes ermöglicht.

Aber… haben wir nun Angst vor einer Überfremdung?

Bevor wir versuchen, abschliessend auf die eingangs gestellte Frage „Hat die Schweiz Angst vor einer Überfremdung?“ eine Antwort zu finden, ist festzuhalten, dass die Antwort auf diese Frage sowieso nur auf die Hälfte der Schweiz zutreffen könnte, denn die Abstimmung spaltete die Schweiz in zwei fast genau gleich grosse Lager. Wenn nur 0.4 % der StimmbürgerInnen ein Nein anstatt ein Ja in die Urne gelegt hätten, wäre die Initiative abgelehnt worden.

Zudem muss auch festgehalten werden, dass die Schweiz ja nicht über eine „Ausländer raus“ – Initiative abgestimmt haben, sondern lediglich darüber, die Zuwanderung zu kontingentieren, also ein Instrument (wieder) einzuführen, um die Zuwanderung in Grenzen zu halten.

Und wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass es bei diesen 50.3% eine riesig grosse Palette von „Ja“-Argumenten gab, die überhaupt nichts mit Ausländerfeindlichkeit oder Angst vor Fremden zu tun hatten. Wie oben beschrieben, wollten die einen der Politik und Wirtschaft einen Denkzettel geben, andere ein klares Zeichen gegen einen EU-Beitritt setzen. Und anderen wiederum war das Bremsen des Wachstums, der Naturschutz und die Verkehrseindämmung wichtig. Wenn man das alles einrechnet, so kann man fast behaupten, dass der Abstimmungsentscheid nur wenig mit einem Votum gegen Ausländer zu tun hatte.

Und wenn man dann noch sieht, dass die viel weitergehende Ecopop-Initiative (die die Zuwanderungsquote noch viel drastischer einschränken will und im November zur Abstimmung gelangen soll) von der linken Seite kommt, dann kann man sich vorstellen, dass das „Ja“ wohl sehr wenig mit ausländerfeindlichen Argumenten zu tun hatte.

Auch wenn uns die ausländische Presse dies nun einreden will, demonstrativ von der EU langjährige Verträge gekündigt wurden und wir von einigen zunehmend als abschottendes Volk wahrgenommen werden. Und selbst ich verstehe, nach dem Verfassen dieses Artikels, die Position der „Ja“-Stimmenden einiges besser, auch wenn ich nicht dazu gehöre.

…oder haben wir einfach genug vom ewigen Wachstum?

Die Schweiz hat anscheinend einfach schlichtweg genug vom Wachstum und dessen negativen Wirkungen auf das alltägliche Leben. Und das linke Lager drängt auch aktuell immer noch schon fast blind auf einen EU-Beitritt 5, den wohl derzeit mehr als geschätzte 75% nicht befürworten würden. Das ist eine Ignoranz der linken Seite, die sich dann leider in solchen vielleicht etwas irrationalen Volksentscheiden widerspiegelt.

Vielleicht haben wir in der Schweiz aber auch tatsächlich erkannt, dass man Geld nicht essen kann und unbegrenztes Wachstum daher kein Ideal sein kann. Dies konnten wir aber wohl auch nur, weil es uns seit Jahrzehnten so gut geht, dass wir uns solche Gedanken überhaupt leisten können…

Am entscheidendsten für das „Ja“ mögen oben beschriebene Gefühle, des „Zu viel“ gewesen sein. Der Verlust der Lebensqualität kompensiert nun einfach nicht den zunehmenden Lebensstandard, wie wir schon in früheren Studien von spirit.ch feststellen konnten.

Was ist Ihre Meinung dazu?

Die genauen Ursachen und Gründe für die Zustimmung zur Zuwanderungsinitiative versuchen wir in unseren aktuellen Umfrage zu erörtern – wir würden uns sehr freuen, wenn Sie mitmachen würden und die Umfrage Ihren Freunden empfehlen würden!

Und bis zum Vorliegen der Resultate würde ich kühn behaupten: Die Schweiz hat keinesfalls Angst vor Fremden oder Fremdem – nicht mal im Ansatz! Die ersten Zwischen-Ergebnisse der Umfrage bestätigen übrigens die in diesem Artikel getroffenen Annahmen…

Würde mich sehr über Reaktionen freuen! Ihre Meinung können Sie unten einfach als Kommentar beisteuern.

Nachtrag 9. April 2014 – Resultate der Umfrage

Wie von mir erwartet, zeigen die Resultate der Umfrage, die heute im Artikel Ursachen und Folgen des 9. Februars 2014 aufgeschaltet
wurden, dass die Annahmen in diesem Artikel durchaus begründet waren und sich schon fast vollumfänglich mit den effektiven Resultaten decken.

Das allgemeine Gefühl, so könne es nicht weitergehen und die Angst vor dem „zu viel“ (Verkehr, Infrastruktur, Umweltbelastung) sowie ein Misstrauen gegenüber Regierung und Politik haben eindeutig den Ausschlag für das JA gegeben. Erst mit grossem Abstand dahinter folgt die Angst vor der Überfremdung.

Bin gespannt auf die weitere Diskussion dazu und freue mich über jede Stimme, sei es über die Kommentarfunktion unten oder als Leserbrief!

 

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